"...so habe ich im Laufe meines Lebens mit einer Menge ernsthafter Menschen zu tun gehabt. Ich bin viel mit Erwachsenen umgegangen und habe Gelegenheit gehabt, sie ganz aus der Nähe zu betrachten. Das hat meiner Meinung über sie nicht besonders gut getan."

"Der kleine Prinz", Antoine de Saint-Exupéry


"Alle Erwachsenen sind einmal Kinder gewesen (aber wenige erinnern sich daran)" - dies wird mir selbst leider manchmal schmerzhaft bewusst, wenn ich mich daran erinnere, wie oft auch ich mit erwachsenem Selbstverständnis über kindliche Gefühle hinweggegangen bin. Sicher, ich bin zwar ausgebildete Pädagogin, aber eben auch einfach nur Erwachsene und habe wie wahrscheinlich jede Mutter vieles bei meinen Kindern nicht wahrgenommen, was sicher wichtig oder sogar sehr bedeutsam gewesen wäre. Achtlos dahin geworfene Äußerungen, nicht böse gemeint aber doch eigentlich überflüssig, haben das eine oder andere ungute Gefühl bei meinen Kindern verursacht, das manchmal die Atmosphäre des Miteinanders negativ beeinflusst hat. Nicht, dass man das nicht gespürt hätte. Aber der Anspruch scheinbar guten pädagogischen Handelns überdeckt so manche Intuition.

Es war eine Frage, die ich meinen Töchtern, heute 20 und 22 Jahre alt, vor Kurzem gestellt habe, die mich veranlasst hat, diese Gedanken aufzuschreiben. Ich wollte gerne einmal wissen, woran sie sich erinnern, wenn sie an ihre Kindergartenzeit zurückdenken. Zuerst waren nur wenige, bruchstückhafte Erlebnisse Thema unseres Gesprächs. Aber das Eintauchen in die Erinnerung brachte immer mehr Geschichten hervor, die mich nachdenklich stimmten. Es waren fast durchweg Ereignisse, die sehr gefühlsintensiv waren und beim Erzählen, im Jetzt, noch teilweise starke Gefühle hervorriefen. Erlebnisse, die entweder als sehr schön oder als sehr belastend und schmerzhaft erlebt wurden. Erlebnisse, wo Erwachsene für die damals kleinen Menschen unverständlich handelten. Nicht nur Erzieherinnen im Kindergarten, nein, auch ich als Mutter handelte oft scheinbar pädagogisch richtig, für meine Töchter jedoch nicht nachvollziehbar,

Pädagogisch handeln - was verstehen wir eigentlich unter dieser Formulierung? Sowie in meiner Ausbildung zur Erzieherin als auch in vier langen Jahren des Sozialpädagogik-Studiums wurde ich mit unzähligen Situationen der pädagogischen Praxis konfrontiert, in denen ich mich mit der Bedeutung dieses Begriffs auseinander setzte. Traditionelle Erziehung, so wie wir sie selbst genossen haben und auch so, wie ich sie in meiner Ausbildung zur Erzieherin einst verstanden habe, meint doch meistens, ganz einfach auf den Punkt gebracht: "Wir Großen wissen, was für die Kleinen gut ist". Während der langen Zeit unserer Sozialisation, unserer Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen haben wir Erfahrungen aller Art gemacht, sind in etliche "Fettnäpfchen" getreten, vor denen wir unsere Kinder bewahren wollen; wir haben im Laufe unseres Lebens (für uns) sinnvolle Verknüpfungen gemacht, Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung erfahren. Wir können Situationen voraussehen, abwägen, Schlussfolgerungen ziehen. Wir können Situationen und Erlebnisse analysieren und mit Abstand betrachten, uns Lösungen für mögliche Probleme überlegen. Kurzum: Wir sind in der Lage, abstrakt zu denken. Abstrakt denken - das heißt "erwachsen" denken - losgelöst von konkreten Situationen oder bestimmten Sachverhalten, an denen wir im Moment direkt beteiligt sind. Abstrakt denken heißt logisch denken. Diese (natürlich auch) wunderbare Fähigkeit ermöglicht es uns, Dinge zu planen, und so verplanen wir mit Lust und Überzeugung nicht nur unser eigenes Leben, sondern auch das unserer Kinder. Vor lauter planen und in die Zukunft schauen verlieren wir leider mitunter den Blick für das Kleine, das jetzt gerade geschieht. Es entgeht uns manch emotional wichtige Situation, die das Kind gerade bewegt. Unser Kopf, beziehungsweise, was darin vorgeht (und das ist viel!) steht uns oft im Wege, einen wirklichen Zugang zur momentanen Befindlichkeit des Kindes zu finden.

Dies soll nicht vorwurfsvoll klingen, sondern einfach nur dazu anregen, unser Verhalten, insbesondere das sogenannte pädagogische, im Kontakt mit dem Kind immer wieder zu überprüfen. Jede Art von Verhalten erzeugt eine Wirkung beim Gegenüber und wenn wir uns verletzend oder ungerecht verhalten haben, neigen wir dazu, dies mit unserer eigenen Stimmung zu entschuldigen. Wir können jedoch an unserem Verhalten "arbeiten" und in gewisser Weise Einfluss darauf nehmen, ob wir positive oder negative Botschaften senden. Vor allem, wenn wir pädagogisch tätig sind, wenn wir beruflich mit Kindern zu tun haben, müssen wir unser Verhalten reflektieren, denn wir tragen maßgeblich dazu bei, welche Art von Atmosphäre im täglichen Kontakt zwischen den Kindern und uns entsteht.



Im Rahmen meiner Tätigkeit als Sozialpädagogin und Referentin führe ich regelmäßig Seminare für Erzieherinnen durch, in denen wir hauptsächlich über schwierige pädagogische Situationen nachdenken. Aus vielen Jahren pädagogischer Praxis, sowie mit Eltern, Erzieherinnen, als auch mit Kindern haben sich eine Fülle von Gedanken ergeben, die mich immer wieder aufs Neue bewogen haben, das Zusammenleben zwischen Kindern und Erwachsenen näher zu beleuchten.

Vielleicht ergibt sich aus meiner Bemühung, diese Gedanken und Erfahrungen aufzuschreiben, ein möglicher Weg zu einem liebevolleren Kontakt zu kleinen Menschen. Vielleicht können meine Überlegungen "große Menschen" zum Nachdenken anregen, Beziehungen zu "kleinen Menschen" neu zu gestalten und zu helfen, Kinder in ihrer für uns oft unverständlichen eigenen Welt besser zu verstehen.


Uschi Wiese-Fiedler


Uschi Wiese-Fiedler

Mit Kindern leben ...

über den Kontakt zwischen großen und kleinen Menschen

August 2001, 113 Seiten, 16 Cartoons, 10 Euro